Ultracycling Bremen Mannheim Rennrad Sonnenaufgang

Extreme 500km in 24 Stunden auf dem Rennrad: Ultracycling-Tour von Bremen nach Mannheim

Extreme 500km in 24 Stunden mit dem Rennrad: Von Bremen nach Mannheim habe ich meine bisher härteste Ultracycling-Tour bestritten. In diesem Erfahrungsbericht teile ich meine Motivation, mein Training, die genaue Route, mein Bikepacking-Setup und meine Impressionen und Eindrücke von der Fahrt.

Mein Name ist Dirk. Ich bin 42 Jahre alt, 1,78m groß und wiege ca. 90kg. Das sind denkbar schlechte Voraussetzungen (bis auf den Namen) für eine 500km-Tour mit 3.000 Höhenmetern quer durch Deutschland in 24 Stunden. Warum und wie ich das trotzdem gemacht habe, möchte ich in diesem Bericht niederschreiben.

Über mich

Seit Ende 2019 fahre ich Rennrad mit jährlich steigender Kilometerzahl. Zu Beginn mit einem Tourenrad/Randonneur mit kompletter Straßenausstattung (Licht, Gepäckträger, Schutzbleche), primär für den Arbeitsweg zum Pendeln.

Irgendwann die Überlegung: Wie wäre es mit einem Rennrad? Also im Jahr 2022 im mittlerweile geschlossenen Rose-Store in Posthausen vorbeigeschaut und halb spontan ein Alu-Endurance-Rennrad (Rose ProSL) eingepackt, das mich mit einzelnen Upgrades (z.B. Leeze-Carbonfelgen, Carbon-Sattelstütze, FaveroAssioma-Powermeter-Pedale) auch heute noch begleitet und auf dem ich mich nach einem Bikefitting bei gebioMized in Münster sehr wohl fühle. Mit diesem Rennrad bin ich seitdem ca. 27.000km draußen gefahren, im Winter steht das Rad auf dem Wahoo-KickrMove.

Während der Saison von April bis Oktober fahre ich pro Woche ca. 200-300km, häufig und gerne die RCB-Montagsrunde sowie am Mittwoch und am Wochenende mit dem ZGB („Zusammen gegen den Besenwagen e.V.“). Meine Touren erstrecken sich auf jährlich viele 100km-Fahrten, einzelne 200- und 300km-Touren und nun auch auf die 520km von Bremen nach Mannheim in 24 Stunden.

Die Idee der Ultracycling-Tour

Im September 2023 bin ich die Strecke von Bremen nach Mannheim mit zwei Übernachtungen (bei Freunden in Vreden und Bonn) in 3 Tagen mit je ca. 220km gefahren. Ich entschied mich damals für eine Route am Rhein entlang, um die Höhenmeter der deutschen Mittelgebirge zu vermeiden (das Gewicht, ihr erinnert euch?). Den direkten Vergleich der beiden Routen auf der Karte gibt es unten im Abschnitt „Die Planung“ zu sehen.

Nach einer Tagestour im Oktober 2024 über 300km von Bremen ans niederländische Ijsselmeer war ich sehr angefixt von längeren Distanzen: Noch Wochen später zog ich Kraft aus der Ruhe während der Fahrt in den Sonnenaufgang und den 12 Stunden allein auf dem Rad wohnte beinahe etwas Meditatives inne.

Ultracycling Bremen Heeg Ijsselmeer

Bei meiner Ankunft am Ijsselmeer fragte mich ein Freund, dass ich doch jetzt sicherlich sehr erledigt sei, mental wie körperlich. Wahrheitsgemäß antwortete ich ihm, dass ich mich sehr gut fühlen und gerne noch weiterfahren würde. Im Rückblick glaube ich, dass dieses Gespräch der initiale Startpunkt für die Planung der 500km-Tour war.

Die Planung

Mein komoot-Account verrät mir, dass die ersten Entwürfe für die Routenplanung der Strecke von Bremen nach Mannheim aus dem November 2024 stammen.

Ich wusste nach der Tour ans Ijsselmeer, dass ich 300 flache Kilometer bewältigen kann und war mir fast sicher, dass ich – Gesundheit und normales Training vorausgesetzt – in der norddeutschen Ebene die 500km erreichen könnte.

Meine größte Sorge waren bei dieser Strecke von Anfang an die Höhenmeter und Wellen im Mittelgebirge, die wir in Bremen so gut wie gar nicht kennen. Wenn man deutlich unter 3.000hm bleiben wollte, müsste man eine teils deutlich höhere Kilometerzahl fahren. Zum Vergleich: Meine 3x200km-Tour aus 2023 (von Bremen in Richtung Südwesten und ab Wesel am Rhein entlang bis Mannheim) hatte fast exakt (nur) 1.000hm auf 660km. Aber dieser Herausforderung wollte ich mich nun stellen, trotz meines Körpergewichts und trotz mehr Gewicht am Rad als auf alltäglichen Touren üblich.

Ultracycling Bremen Mannheim Rennrad Vergleich Routen

Bei den Planungen für die Route von Bremen bis Mannheim wählte ich ausschließlich Straßen und Asphalt aus. Nachdem ich in den letzten Jahren aufgrund der verschiedenen verfügbaren Fahrprofile auch viel mit „brouter.m11n.de“ geplant und anschließend die gpx-Dateien zu komoot übertragen habe, fand die Streckenplanung für die 500km ausschließlich mit komoot statt. Bis auf einige sehr wenige Ausnahmen (insgesamt ca. 5km) konnte ich mich auf die Oberflächen-Informationen bei komoot verlassen.

Die Route wurde mehrfach verbessert und sicherlich auch mal verschlimmbessert. Als markante Wegpunkte und Zwischenziele (wichtig für den Kopf) bildeten sich dann irgendwann heraus:

  • 200km bei Soest (dort wohnt mein Bruder),
  • 275km in Winterberg (das „Dach“ der Tour),
  • 350km in Marburg
  • 450km in Frankfurt/Main
  • 520km Ziel in Heddesheim bei Mannheim

Als Durchschnittsgeschwindigkeit rechnete ich mit ca. 25kmh, nicht als selbst verordneter Leistungsdruck, sondern weil es das Berechnen der Fahrzeit für 500km sehr einfach macht. Fokussieren wollte ich mich aber auf Powermeter und Pulsmessgurt: Im Schnitt wollte ich nicht über 120bpm kommen und nicht mehr als 140W treten. Mit diesen Werten hatte ich auf den 200/300km-Strecken gute Erfahrungen gemacht. Und ich befürchtete, viele Kräfte in den Anstiegen (z.B. hoch nach Winterberg) lassen zu müssen und wollte dafür Kräfte sparen.

Viele Gedanken machte ich mir auch über die optimale Startzeit: Sollte ich am Nachmittag/Abend losfahren, um noch einigermaßen frisch in die Dunkelheit und durch die Nacht zu fahren? Oder machte es mehr Sinn, den gewohnten Biorhythmus beizubehalten und früh morgens zu starten? Die langstreckenerprobten ZGB-Vereinskollegen Malte und Frank empfahlen unabhängig voneinander einen Start am frühen Morgen. Und obwohl ich ein extremer Morgenmuffel bin, entschied ich mich 2 Wochen vor der Tour für diese „Early-Bird“-Variante: Abfahrt um 04:30 Uhr.

Mit Festlegung der Startzeit erledigten sich auch manch andere Bedenken, so z.B. die Suche nach der perfekten Route (mit so wenig Autoverkehr wie möglich) durch Frankfurt am Main. Denn mit der Startzeit war klar, dass ich etwa zwischen 00:00-03:00 Uhr durch Frankfurt fahren würde. So entschied ich mich für die einfachste Variante: von Nord nach Süd komplett auf der Friedberger Landstraße, einer vierspurigen Hauptverkehrsstraße, um nach Überquerung des Mains schnellstmöglich auf den recht neuen Radschnellweg Richtung Darmstadt zu gelangen.

Mit meinen Planungen diese Tour betreffend hielt ich im Verein nicht hinter dem Berg und es gab schon im Vorfeld viele Gespräche zu der Tour. ZGB‘ler Vasco entschied sich dann sogar, mich auf den ersten 200km von Bremen bis Soest zu begleiten.

Das Bike-Setup

Da ich mir schnell sicher war, nur Straße fahren zu wollen, entschied ich mich für das Rennrad (Rose Pro SL Disc Ultagra, MJ 2022) als Begleiter für diese Tour. Aufzeichnung und Navigation liefen über den Wahoo Roam v2. Um die Zielführung für den Roam etwas leichter „verdaulich“ zu machen, unterteilte ich die Strecke bei komoot in drei ungefähr gleich lange Abschnitte: Bremen – Soest, Soest- Marburg, Marburg – Mannheim.

Als sich die Planungen für diese Tour konkretisierten, entschied ich mich im Rahmen einer planmäßigen Wartung der Schaltung meines Rades, die hintere Kassette von 11-32 auf 11-34 Ritzel umzubauen. So hätte ich im Ernstfall einen „Notaus-Gang“, mit dem ich auch längere und steilere Anstiege mit zusätzlichem Gewicht durch zu transportierendes Zubehör, Kleidung und Verpflegung gut würde erklimmen können.

Des weiteren spielte ich mit dem Gedanken, für die Tour meine BBB Aero-BarsAuflieger zu montieren (siehe Bild). Diese erhöhen zwar das Gewicht um ca. 500g, erlauben aber alternative Griff- und somit Sitzpositionen, was auf einer Tour über 20 Stunden ganz angenehm sein kann. Auf meiner 300km-Fahrt ans Ijsselmeer haben sie mir im Gegenwind gute Dienste erwiesen. Schlussendlich entschied ich mich aber, die Auflieger wieder zu demontieren (das Foto zeigt das Rad am Tag vor der Abfahrt mit noch montierten Aufliegern) und aufgrund der 3.000 Höhenmeter auf der Tour lieber etwas Gewicht zu sparen.

Die Taschen am Rad:

  • Restrap Race Top Tube Bag (2 Liter)
  • Restrap Race Frame Bag (3 Liter)
  • Rockbros Lenkertasche (2,4 Liter)
  • Topeak Backloader („Arschrakete“, 10 Liter), gehalten und geschützt vor seitlichem Ausschlag vom:
  • Topeak Wishbone (mit Montagemöglichkeit für zwei zusätzliche Flaschenhalter)
  • zusätzlicher Flaschenhalter am Unterrohr (SKS Anywhere Topcage) mit Elite Flaschen-Werkzeugbox
ultracycling-tour Ultracycling Bremen Mannheim Rennrad
Rose ProSL Disc Ultegra

Das Garmin Varia Radar RTL515 konnte ich mit einer günstigen Halterung ganz hervorragend am Topeak Blackloader befestigen, da sein angestammter Platz an der Sattelstütze durch die Arschrakete in Beschlag genommen wurde. Zusätzlich befestigte ich ein normal leuchtendes Rücklicht (Sigma Sport Blaze) links an der Sitzstrebe.
Auf meinen alltäglichen Touren ist eine elektrische Pumpe von Cycplus mein Begleiter. Diese funktioniert hervorragend für
1-2x Aufpumpen auf 6Bar. Für diese lange Tour entschied ich mich aber für die manuelle SKS Raceday Minipumpe.

Durch die Nacht begleitet mich in der Dunkelheit seit einem Jahr die Lupine SL MiniMax AF. Von meinem Vereinskollegen Frank lieh ich mir für die Tour noch einen 10Ah-Akku. Zusammen mit meinem 5Ah-Akku also genug Ladekapazität, um auch mal das beeindruckende und StVO-konforme Fernlicht zu benutzen. Zusätzlich habe ich eine günstige Stirnlampe eingepackt, die ich auf den Helm klemmen und mit der ich Kurvenbereiche im Zweifel noch besser ausleuchten konnte. Außerdem wäre diese im Fall eines Defekts in der Nacht zum Einsatz gekommen.

Auf die Taschen verteilte ich taktisch möglichst geschickt mein Gepäck: Verpflegung griffbereit in den Trikottaschen und Taschen am Oberrohr, genau wie Powerbanks zum Aufladen von Wahoo-Radcomputer, Rücklicht-Radar und Handy. Regenjacke, Überschuhe, Wechselkleidung, wärmere Kleidung (Armlinge, Beinlinge) für die Nacht fanden ausreichend Platz in der Arschrakete. In jeder Tasche befand sich noch ein Ersatzschlauch. „Lieber Vorsicht als Nachsicht“ ist meine Devise. Grundsätzlich neige ich bei Distanzen von mehr als 200km zu eher zu viel Gepäck. „Sicher ist sicher“. Hier sehe ich einen deutlichen Ansatzpunkt für Optimierungen, auch wenn mich das Wissen um meine vorhandene Ausrüstung beruhigte.

Die Verpflegung unterwegs

Leider vertrage ich Gels nicht sehr gut und finde auch den Geschmack meist furchtbar, vor allem wenn man sie auf Körpertemperatur erhitzt an einem warmen Tag konsumiert. Meine Geheimwaffe bei Touren mit sehr früher Startzeit sind Trinkmahlzeiten (z.B. yfood und die etwas günstigere Alternative von Lidl): 500 Kohlenhydrate schnell getrunken und für mich gut bekömmlich. Mehr mag mein Magen am frühen Morgen manchmal nicht. Ich bin ein schlechter Frühstücker.

Ultracycling Bremen Mannheim Rennrad Verpflegung Gel Riegel Nüsse Energy

Auf dem Rad nutze ich bei normalen Touren gerne die Riegel von Corny Haferkraft. Es gibt natürlich unterschiedliche Geschmacksrichtungen, die man mögen kann oder nicht. Aber hinsichtlich der Konsistenz sind diese Riegel schön soft und nicht so trocken und klebrig wie andere Produkte (die teils ja sogar extra für den Zweck des Radfahrens hergestellt werden – verrückt). Zudem gibt es Corny Haferkraft auch in größerem Format (65g), so dass ein Riegel ca. 280 Kohlenhydrate liefert.

Mit dabei auf der Tour hatte ich noch Bananen, Bifi-Rolls (ähnlich brauchbare Nährwerte wie die Riegel), Dextro Energy Gums und kleine Gummibärchen- und Nuss-Mischungen (gibt es bei Lidl, Edeka oder Rewe im Kassenbereich und sind natürlich im Verhältnis teurer, aber in der Packungsgröße ideal zum Mitnehmen).

In den vier Trinkflaschen am Rad konnte ich insgesamt 3,3 Liter Flüssigkeit transportieren. Als Getränkepulver verwende ich Powerbar Isoactive, da ich es gut vertrage. Andere Pulver haben mir auch schonmal den Magen auf links gedreht oder für Krämpfe gesorgt. Daher besser vorher ausprobieren und keine Experimente auf so einer langen Tour durchführen.

Zusätzlich zur Verpflegung auf dem Rad wurden natürlich Zwischenstopps geplant, bei denen Mahlzeiten eingenommen werden sollten. Bäckerei, Mittagspause bei meinem Bruder, Schnellrestaurants… Hier wollte ich (bis auf die vereinbarte Pause bei meinem Bruder) auf mein Bauchgefühl hören. Ob das geklappt hat? Die Auflösung folgt im nächsten Kapitel:

Die Fahrt

Hier findet ihr die Aktivität bei Strava und hier die Route bei komoot.

Los ging es am 02. Juni um 04:30 Uhr. Sonnenaufgang um 05:04 Uhr. Wie verabredet informierte mich Vasco 30 Minuten vorher, dass er sich auf den Weg zu mir machte. Die Sonne konnte man hinter dem Horizont schon erahnen und ich konnte sogar direkt ab Start meine (photochrome) Sonnenbrille tragen. Wir quatschten uns gegenseitig wach und fanden schnell einen guten Rhythmus. Vasco ist zugegeben deutlich fitter als ich und schlug direkt eine optimistische Wattzahl an. Mit guter Kommunikation konnten wir uns aber immer wieder einigen. Gefühlt fuhr Vasco auf den ersten 220km zu 80% vor mir im leichten Gegenwind, wofür ich ihm sehr dankbar war.

Auf diesem ersten Abschnitt lagen auch die wenigen kurzen Abschnitte mit Schotterwegen, die komoot uns bis dahin erfolgreich verheimlicht hatte. Diese Gravelpassagen meisterten wir aber bravourös und ohne Pannen. Hier rächte es sich evtl., dass ich bei der Planung mit komoot versucht habe, die Bundesstraßen kategorisch auszuschließen und auf Nebenstraßen fahren wollte.

Porta Westfalica Ultracycling Bremen Mannheim Rennrad

Um 8:00 Uhr erreichten wir Porta Westfalica und folgten dem Weserradweg ein Stück. Es folgte eine Frühstückspause nach ziemlich genau 100km bei einer Bäckerei in Werste an der Werre. Weiter in Richtung Herford und durch Bielefeld wurde das Terrain so langsam etwas welliger. Durch Verl und Lippstadt erreichten wir das Haus meines Bruders bei Soest um 13:00 Uhr nach 220km. Wie verabredet und geplant folgte hier ein Mittagessen (Nudeln mit Tomatensauce) und für Vasco war das Ende seiner Reise erreicht. Er fuhr weiter zum Bahnhof Soest und von dort mit dem Zug wieder nach Bremen.

Nach ca 1h Pause ging es für mich weiter. Mein Bruder begleitete mich mit dem Rad ein kurzes Stück und dann wurde es auch direkt ernst hinsichtlich der Höhenmeter: Das Sauerland mit dem Rothaargebirge lag vor mir und damit die Steigung hinauf nach Winterberg. Ich versuchte, mir meine Kräfte gut einzuteilen, natürlich zum Nachteil der Durchschnittsgeschwindigkeit. Aber ich fühlte mich gut. Im Westen Richtung Ruhrgebiet zogen dunkle Wolken auf, die es aber nicht bis zu mir schafften. Um 18:30 erreichte ich nach 270km Winterberg und ließ mir beim Schnellrestaurant mit dem großen M einige Kohlenhydrate zukommen. Dort konnte ich auch meine elektronischen Geräte aufladen, dank frei zugänglicher USB-Steckdosen.

Ultracycling Bremen Mannheim Rennrad Bahnradweg Tunnel

Es folgte die Abfahrt teils auf einer alten Bahntrasse und auf Wegen weit abseits von Straßen mit Kfz-Verkehr in Richtung Marburg. Im Rückblick eines der Highlights der Tour: In angenehmen Kurven auf perfektem Asphalt ohne Autoverkehr und durch verschiedene Tunnel ging es über 75km ganze 500hm hinab. Langsam zog die Dämmerung über die Hügel und es wurde merklich kühler, vor allem im Schatten und in den Abfahrten. Die Sonne verschwand um 21:00 Uhr hinter Hügeln. Offizieller Sonnenuntergang um 21:33 Uhr.

Um 22:00 Uhr fuhr ich mit 340km in den Beinen auf dem schönen Radweg an der Lahn durch Marburg. Geplante letzte Pause vor der Nacht. Nachrichten auf dem Telefon checken: Statusbericht an meine Freundin Zuhause senden, motivierende Nachrichten von Freunden und Vereinskollegen lesen.

Aber dort in Marburg beging ich wohl einen strategischen Fehler: Statt ein zweites vollwertiges Abendessen (wie in Winterberg) zu mir zu nehmen, entschied ich mich für einen kürzeren Stopp auf den Treppen eines Parkhauses im Süden der Stadt, wo ich nur die eigene Verpflegung zur Verfügung hatte: Bifi, Gummibärchen, Riegel, eigene Getränke. In dem Moment für mein Gefühl völlig ausreichend, aber es standen mir noch 180km, einige Wellen in der Topographie, die Dunkelheit und (was ich noch nicht ahnte) die Feuchte und Kälte der Nacht bevor. Dies ahnte ich jedoch noch nicht und war weiter frohen Mutes.

Es stellte sich für meine Motivation und meinen Durchhaltewillen als geschickt heraus, die Strecke bei komoot in drei Abschnitte unterteilt zu haben. So hatte ich bis zum letzten Abschnitt ab Marburg nie die tatsächlichen Restkilometer visuell vor Augen, sondern immer nur die km bis zum nächsten Zwischenziel. Ab Marburg waren es dann auch nur noch 180km und ich konnte mir glaubhaft einreden, dass dies fast nur noch ein ganz normaler bzw. etwas längerer Fondo ist, wie ich ihn häufiger fahre.

Beim Starten des letzten Teilstücks der Route auf dem Wahoo Roam spielte dann kurzzeitig die Technik verrückt: Die Route wollte nicht starten. Fehlermeldung. Also Handy auspacken, die Route in der komoot-App minimal verändern, wieder speichern, neu mit der Wahoo-App synchronisieren und dann mit dem Smartphone einen mobilen Hotspot einrichten, damit die Route mit dem Roam synchronisiert werden kann. Was sonst immer perfekt funktioniert, wollte an diesem Tag um 22:30 Uhr auf einer Treppe eines Parkhauses in Marburg partout nicht hinhauen, also die neu gespeicherte Route per Bluetooth mit dem Roam synchronisiert und es konnte weitergehen. Verrückt, wie einen so kleine technische Problemchen nach 18 Stunden im Sattel fast aus der Ruhe bringen können.

22:30 Uhr. Es war nun komplett dunkel. Wechsel der Sonnenbrille gegen eine Brille mit klaren Gläsern. Die Orientierung in der Nacht war zu Beginn etwas ungewohnt und ich bog ein paar Mal falsch ab. Ich musste mich zwingen, mich wirklich auf die Straße und die Navigation zu konzentrieren. Aus diesem Grund setzte ich zusätzlich die Stirnlampe auf den Helm, um bei bevorstehenden Abbiegungen auch in die Kurven hineinleuchten zu können, während die Lampe am Rad stoisch geradeaus leuchtete.

Dieser Umstand rettete mich bei einer kuriosen Bahnstrecken-Unterquerung: Das Navi sagte „links abbiegen“. Die Durchfahrt sah breit aus, es ging einen kurzen Absatz hinab und sowohl meine Fahrradlampe wie auch meine Stirnlampe leuchteten plötzlich in eine riesengroße Pfütze (gefühlt ein See!) direkt in der Unterführung. Ich bremste irgendwie und konnte das Rad zurück nach rechts lenken. Die Gedanken: Was war denn hier los!? Wie tief ist das Wasser da und wie soll ich da durchkommen? Gibt es Alternativen?

Ultracycling Bremen Mannheim Rennrad Bahnunterführung geflutet

Nach kurzer Orientierung in der Umgebung fiel mir auf, dass die Unterführung mehrere parallele Röhren aufweist und die trockenen, viel kleineren und nur geschotterten Röhren (aber sogar für Radfahrer ausgeschildert, was man im Hellen bestimmt gut erkennen kann) etwas abseits liegen. Das Bild links stammt von komoot und wenn man sich das mal im Dunkeln vorstellt, kann man sich meine Verwirrung vielleicht vorstellen. Nun war ich auf jeden Fall wieder wach.

Weiter ging es durch die Nacht. Meine verpasste „große Pause“ in Marburg machte sich mit ersten Zweifeln bemerkbar: Reichen die Getränke für die Nacht. Also kurzer Stopp um 23:45 an einem Kiosk in Lollar. Über Gießen ging es bald an der Wetter entlang, Fahrtrichtung Frankfurt am Main. Meine Beine fühlten sich überraschend gut an und auch Motivation war noch vorhanden.

Nach 410km um ca. 02:00 Uhr ließen sich erste künstliche Lichter hinter den Hügeln erahnen. Irgendwann sah man in der noch klaren Nacht die ersten Turmspitzen blinken. Auf diesen Anblick hatte ich mich seit Beginn der Planungen gefreut: Mit dem Rad von Bremen nach Frankfurt – „Mainhattan“. Viele fahren das mit dem Auto oder mit dem Zug, andere nehmen das Flugzeug. Ich habe es nonstop mit dem Fahrrad geschafft. Der Anblick der Hochhäuser am Horizont bot mir Orientierung und Motivation.

Skyline Frankfurt Nacht Ultracycling Bremen Mannheim Rennrad
Skyline Frankfurt Nebel Ultracycling Bremen Mannheim Rennrad

Ich erreichte die Friedberger Landstraße in Bad Vilbel (siehe Kapitel „Planung“), die mich ohne Umwege in die Innenstadt von Frankfurt und in die leeren Hochhausschluchten führte. Wie geplant war kaum ein Auto unterwegs um 03:00 Uhr Nachts. Plötzlich wurde es nebelig: Auf dem Foto direkt auf der Ignatz-Bubis-Brücke über den Main (Tourkilometer: 440km) ließen sich die Hochhäuser der Frankfurter Skyline kaum erkennen. Ein ausgiebiges Fotoshooting blieb hier also aus. Und noch etwas geschah: Der Nebel setzte sich mit feiner Feuchtigkeit ab. Auf meiner Kleidung, auf meinem Fahrrad, auf dem Helm, in meinem Gesicht.

Erst wurde mir etwas frisch, dann fast kalt. Bei einer kurzen Pause an einer Tankstelle am Südfriedhof Frankfurt fror ich nach wenigen Minuten, so dass ich mich schnell wieder auf das Rad setzte, um Energie in Wärme umzusetzen. War das die Folge des ausgelassenen zweiten Abendessens in Marburg vor 5-6 Stunden? Mit der Kälte ging meine Motivation in den Keller. Die Straße (Radschnellweg in Richtung Darmstadt) war schnurgerade und in bestem Zustand und ich hatte nur noch 80km vor mir, aber von einem Moment auf den anderen hatte ich gefühlt jegliche Freude an der Tour verloren und war genervt. 470km zeigte mir der Radcomputer an.

Hier half es mir, in Kilometern statt in Stunden zu denken und mein Wissen bzw. die Erfahrung, dass 70-80km unter normalen Umständen eigentlich kein Problem darstellen, vor allem weil der Rest der Route flach bleiben sollte.

Zu meiner Linken begann nun im Osten bereits langsam die Morgendämmerung ab 04:00 Uhr. Durch die Höhenzüge des Odenwalds traf mich jedoch das erste Sonnenlicht nicht direkt zum Sonnenaufgang, sondern erst um ca. 06:00 Uhr. Da ich bereits häufiger im Odenwald und im Gebiet um Mannheim Rad gefahren bin, wurden die Ortsnamen nun vertrauter und es wurde klar, dass bald das Ende der Tour erreicht ist.

Eine Mischung aus Freude und Wehmut machten sich in mir breit: „Geschafft!“ vs „Schade, das war’s.“ Durch Bensheim, an Heppenheim und Weinheim vorbei. Noch 20km. Ich schrieb meinem Freund, bei dem ich die nächsten Tage verbringen wollte und kündigte mich für in ca. 1 Stunde an. Natürlich hatte ich es geschafft, trotz meiner vorhandenen Ortskenntnisse in der Region, noch 1-2 kurze Gravel-Segmente auf Waldwegen in die Route einzubauen. Statt mich zu ärgern, musste ich über meine Nachlässigkeit in der Routenplanung nun jedoch fast lachen.

Ultracycling Bremen Mannheim Sonnenaufgang Rennrad

Um Punkt 6:50 Uhr fuhr ich auf den Hof und wurde freudig (aber auch ein bisschen ungläubig) begrüßt. Nettofahrzeit: 21 Stunden und 27 Minuten.

Runter vom Rad, hinsetzen, heißer Kaffee. Geschäftiges Treiben im Haus: Es lief das Frühstück, die Kinder mussten zur Schule und mein Freund und seine Frau zur Arbeit. Das gab mir Gelegenheit erst einmal zu realisieren, dass es vorbei ist. Ich hatte keine Schmerzen, aber die Oberschenkel und Knie gaben mir vor allem beim Treppensteigen dezente Rückmeldung zu den vergangenen 24 Stunden. Der Sitzbereich war spürbar, jedoch nur wenig gereizt.

Ab 08:00 Uhr war ich alleine im Haus meiner Gastgeber. Völlige Ruhe. Die Ohren sausten noch wenig vom dauerhaften Fahrtwind. Meine Überlegung: Biorhythmus beibehalten, nicht schlafen, sondern Abends früh ins Bett. Also Duschen und die Aktivität bei Strava hochladen, sowie Nachrichten am Telefon austauschen. 09:30 Uhr. Der vierte Kaffee. Das Sofa. Die Augen. Das Ende.

Um 15:00 Uhr wachte ich wieder auf. Wenig überraschend konnte ich am Abend dennoch wieder gut einschlafen.

Mein Fazit

Für mich war die Tour ein beeindruckendes Erlebnis und das nicht nur sportlich, sondern vor allem mental und emotional. Was ich gelernt und erfahren habe, fasse ich abschließend zusammen:

Vorbereitung ist alles. Aber Perfektion gibt es nicht.
Die sorgfältige Planung von Route, Setup und Verpflegung hat mir enorm geholfen, Überraschungen zu minimieren. Trotzdem passierten unterwegs Dinge, die man nicht vorhersehen kann (Technikprobleme mit dem Roam, die geflutete Unterführung in der Nacht, Straßensperrungen durch Baustellen, misslungene Refueling-Strategie).

Körpergewicht ist nicht alles.
Auch ohne die „klassische Radsportfigur“ sind Ultradistanzen möglich. Konstante Leistung (Watt/Puls im Blick behalten) und eine überlegte Krafteinteilung sind für mich dann umso wichtiger. Dabei hilft es natürlich, sich und seinen Körper auf vielen Ausfahrten vorher kennengelernt zu haben.

Setup: Sicherheit vor Minimalgewicht.
Auch wenn ich zu viel Gepäck und Zubehör mitgenommen habe: Beleuchtung, Akkus/Powerbank und warme Kleidung waren Gold wert. Besonders bei Nacht- und Nebelfahrten ist das auch ein Sicherheitsfaktor, kein Ballast. Und das Wissen um die vorhandene Ausrüstung war gut für meinen Kopf.

Verpflegung ist mehr als Kalorien. Geplante Pausen wirklich auch durchführen.
Ein großer Knackpunkt war in der Rückschau das fehlende zweite Abendessen in Marburg. Energieaufnahme muss vorausschauend geplant sein, denn Essen ist auch Motivation. „Bifi und Riegel“ reichten mir in der Nacht irgendwann nicht mehr. Großes Learning hinsichtlich Getränke und Essen: Besser haben als brauchen. Also Gelegenheiten nutzen und zu Pausen zwingen. Lieber eine Pause mehr als eine zu wenig.

Mentale Strategie: Strecke in Etappen denken.
Die Unterteilung in drei etwa gleich lange Abschnitte hat mich motiviert und davor bewahrt, von den 500 Gesamtkilometern sprichwörtlich erschlagen zu werden. Kleine Ziele schlagen große Zahlen. Als die Kilometer weniger wurden (<100-150), habe ich in km statt in Stunden „gedacht“.

Der schönste Moment ist nicht das Ziel, sondern der Weg.
Highlights wie die Abfahrt von Winterberg ins Lahntal oder die ersten Hochhäuser von Frankfurt am Horizont bleiben hängen. Das zeigt: Ultracycling ist nicht nur eine sportliche Leistung, sondern vor allem auch ein emotionales Abenteuer.

Abschließend: 500 Kilometer mit 3.000 Höhenmetern in 24 Stunden klingen auf dem Papier wie eine Zahlenspielerei, aber unterwegs wurde deutlich, dass es um viel mehr ging: Um das Durchhalten in schwierigen Momenten, um die Freude an kleinen Highlights entlang der Strecke und um das Vertrauen in meine eigene Vorbereitung.

Es war faszinierend zu erleben, wie der Körper über so viele Stunden hinweg zuverlässig funktioniert, wenn man ihm den richtigen Rhythmus, genügend Nahrung und ein klares Ziel vorgibt. Genauso spannend war die mentale Seite: Phasen von Euphorie, völliger Ruhe und Entspannung, Zweifel und Erschöpfung wechselten sich ab.

Am Ende überwiegt vor allem Dankbarkeit: für die Begleitung von Vasco auf den ersten 200 Kilometern, für die Logistik während und nach der Fahrt, die vielen Gedanken, Gespräche und Tipps im Vorfeld mit/von den verschiedensten Menschen und dafür, dass ich die Fahrt verletzungs- und pannenfrei beenden konnte. Es hat sich bestätigt, dass Ultracycling kein reines Auspowern ist, sondern vielmehr eine Mischung aus Planung, Geduld, Disziplin und dem Bestreben danach, den Moment zu genießen.

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